Wenn alles Wurst ist

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Das ging schnell. Am Montag noch war der erste von drei Klimaschutzberichten, die die internationale Wissenschaftsgemeinschaft IPCC bis Ende März 2022 vorlegen wird, das Hauptthema in allen Nachrichtensendungen. Kein Wunder, denn eine „Alarmstufe rot für die Menschheit“ ruft UN-Generalsekretär António Guterres nicht alle Tage aus. Die deutsche Umweltministerin Svenja Schulze sprach von der „Lebensgefahr“, in welcher „der Planet und seine Bewohner“ schweben würden, hielt jedoch weiter daran fest, dass in Deutschland noch viele Jahre lang Braunkohle verfeuert werden darf. Und ihre Kabinettskollegin, Forschungsministerin Anja Karliczek, gab wild entschlossen zu Protokoll: „Wir werden nochmals spürbarer in Wissenschaft und Forschung investieren, um dem Klimawandel mit aller Kraft entgegenzutreten.“ Ganz so, als hätten „Wissenschaft und Forschung“ nicht schon längst die entsprechenden Wege aufgezeigt.

Doch schon am Dienstag schien es so, als rücke die Klimakrise wieder in den Hintergrund. Kein Vergleich jedenfalls zum offenbar eigentlichen Skandal der Woche, der sich in der Betriebskantine des „Markenhochhauses“ von Volkswagen abspielte. Dort, in seiner Zentrale, will der Wolfsburger Automobilkonzern im Sinne der Nachhaltigkeit fortan nur noch fleischfreie Kost für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anbieten. 150 Rezepte mit viel Gemüse, frischen Kräutern, hin und wieder Fisch, aber eben keine Currywurst mehr.

Spätestens seit Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder diesen vermeintlichen Affront gegen den „Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion“ zum Anlass nahm, sich in den sozialen Medien zum wurstschwingenden Anführer einer neuen Arbeiterbewegung auszurufen, kam keine Zeitung, kein Fernsehsender mehr an einem Bericht über die vegetarische Zumutung vorbei. Ein bisschen ging bei all der Aufregung unter, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zukünftig lediglich über die Straße gehen müssen, um in der nächsten VW-Kantine nach wie vor ihre Currywurst essen zu dürfen. 

Aber, nochmal kurz zurück zum Klima. Bevor auch wir das vergessen. Denn so oder so dürfte der vom IPCC vorgelegte Bericht zum Wendepunkt in der Klimaschutzpolitik werden. Spätestens ab jetzt kann es wirklich keine Zweifel mehr daran geben, dass jede Industrie, die zum weiteren Ausstoß von Treibhausgasen beiträgt, vor allem jene, die noch immer fossile Energieträger verbrennt, ganz bewusst den Niedergang des Planeten in Kauf nimmt. Jeder Benzinmotor, der in Betrieb geht, jede Tonne Braunkohle, die verfeuert, jeder Liter Öl, der weiter dem Boden abgerungen wird, ist ein aktiver Beitrag dazu und man fragt sich allmählich, ob wir mit unseren vielen Plänen für „Klimaneutralität“, deren Fixpunkte in ferner Zukunft liegen, wirklich schon die richtigen Mittel zur Bewältigung der Krise gefunden haben. Ganz naiv könnte man fragen, warum es – in Kenntnis der verheerenden Folgen – eigentlich immer noch erlaubt ist, aus der massenhaften Emission von Treibhausgasen Profit zu schlagen? Müssten die Verantwortlichen von Exxon über RWE bis BP nicht in naher Zukunft alle mal vor Gericht stehen, um, dem elementaren Rechtsgrundsatz des Verursacherprinzips gemäß, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen? Oder ist das, wie auch beim nach wie vor Benzinmotoren bauenden Volkswagenkonzern, alles Wurst?

Den Verantwortlichen von ARD und ZDF, die sonst – gefühlt – jeden zweiten Schneeregen in Bayern mit einer Sondersendung würdigen, waren die alarmierenden Befunde des IPCC übrigens nicht mal einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau oder ein „Extra“ nach den „Heute“-Nachrichten wert. Von Dienstag an war in den Hauptnachrichtensendungen vom Bericht des Weltklimarats nichts mehr zu hören. An die letzte Talkshow, in der ernsthaft über die Frage diskutiert wurde, was wir angesichts der schier unaufhaltbaren Erderwärmung denn nun eigentlich ganz konkret und, vor allem, ab heute tun müssen, kann ich mich ohnehin nicht erinnern. Dabei habe ich den Eindruck, dass inzwischen auch hierzulande immer mehr Menschen die Klimakrise wirklich ernst nehmen und nach Antworten auf eben diese Fragen suchen.

Diese Wochenauslese geht in eine dreiwöchige Pause. Unsere Kollegin Kerstin Eitner kann Sie leider immer noch nicht an dieser Stelle begrüßen. Wir melden uns am 10. September, also kurz vor dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfes, wieder bei Ihnen.

Bis dahin wünscht Ihnen die gesamte Redaktion des Greenpeace Magazins eine schöne und trotz allem optimistische Zeit!

 

 

 

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Unser Autor Fred Grimm fragt sich, ab wann es als kriminell gilt, das Klima zu zerstören
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nun sind auch bei mir um die Ecke die „Gorillas“ eingezogen: schwarz gekleidete Boten mit wuchtigen Rucksäcken, die auf E-Bikes umhereilen und Einkäufe ausliefern. Auch vorher schon erinnerte das Treiben in unserem Treppenhaus an einen Staffellauf der Lieferdienste: Auf Lieferando folgt DHL folgt Amazon folgt Flink – und nun auch: ein Gorilla.

Während mich das Ganze etwas verwundert zurücklässt, zieht meine ältere Nachbarin stoisch weiter ihren Hackenporsche die Treppen hinauf. Doch das Konzept verfängt bei vielen, die den Gang zum Supermarkt lästig finden. 2000 Produkte führen die Gorillas im Sortiment, ständig lockt das Start-up, das sich in Windeseile zum Konzern aufbläht, mit Gutscheinen und Sonderangeboten. Neulich schwärmte eine Bekannte von mir, ihr hätte am Samstagabend noch Pesto gefehlt – ein Bote brachte das Glas in neun Minuten, nachdem sie die Bestellung in die App getippt hatte. In der Zeit war zu lesen, wie jemand eine ganze Radel-Armada herbeirief, um sich 78 Flaschen Champagner bringen zu lassen – ebenfalls in zehn Minuten, der versprochenen Lieferzeit. Man kann sich vorstellen, welcher Stress in den Warenlagern herrscht. Ein interner Wettbewerb adelt die Schnellsten, deren Bestzeiten verschärfen das Soll für alle. Neue Anbieter werben inzwischen mit sieben Minuten vom Klick auf dem Smartphone zur Klingel an der Tür.

Bei so rasanter Expansion und harter Konkurrenz bleiben Arbeitsbedingungen und Rücksicht auf der Strecke. Anwohnende beschweren sich über Lärm und zugestellte Gehwege durch den Zuliefer-Verkehr an die Warenlager, die sich inzwischen über die ganze Stadt verteilen. Kommen die „Rider“ einem entgegen, schaut man in gehetzte Gesichter. Bei jedem Wetter heizen sie für 10,50 Euro die Stunde durch den Stadtverkehr und über die ohnehin überlasteten Radwege, den unbequemen, gerne mal 30 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken. Einige von ihnen legten für Protestaktionen bereits die Arbeit nieder.

Diese Woche übergab das Beschäftigten-Bündnis „Gorillas Workers Collective“ dem Deutschland-Chef Harm-Julian Schumacher eine Liste mit 19 Forderungen: regenfeste Kleidung, faire Bezahlung, nachvollziehbare Schichtpläne, bezahlte Pausen, pünktliches Gehalt, regelmäßig gewartete Räder mit Gepäckträger – all das war bislang nicht selbstverständlich. Bis zum 14. Juli um 15 Uhr sollen die Forderungen erfüllt sein, sonst drohen weitere Streiks. Gorillas wirbt neues Personal derweil nicht nur mit lustigen Kostümen, einem „supercoolen Team“ und dem Trinkgeld, sondern auch mit einer Festanstellung – dabei schreibt das Gesetz diese ohnehin vor. 

Ohne negative PR scheint sich bei den Gorillas nichts zu bewegen, einem Start-up, das Gründer Kağan Sümer für „eine große Familie“ hält. Auf den ersten Blick wirkt die Arbeitsatmosphäre durchaus einladend: In den Lagern läuft Musik, die DJs eigens dafür zusammengemixt haben, in der Firmenzentrale hängt Kunst der Mitarbeitenden. Betriebsratswahlen werden blockiert, aber hey, Betriebsräte braucht eine richtige Familie ja auch nicht.

Für manche Lieferanten mag diese Arbeit eine gewisse Freiheit bedeuten: Gerade junge Leute verdienen sich so gerne etwas dazu, die Großstadtluft weht um die Nase, das Trinkgeld klimpert in der Tasche. Andere hingegen, zum Beispiel Geflüchtete, die woanders keinen Job finden, malochen nicht nur für ihren Lebensunterhalt. Ihnen sichert die Arbeit auch die Aufenthaltserlaubnis – und das macht sie abhängig von Gorillas. Wer wagt es noch, bessere Verhältnisse einzufordern, wenn bei Kündigung die Abschiebung droht? Die Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD) spricht von „digitaler Sklaverei“.

Investoren befeuern den Liefertrend gleichwohl mit viel Geld, rund 11,4 Milliarden Euro sollen in die neuen Dienste seit Corona geflossen sein. Gorillas, das inzwischen in sechs Ländern und 17 deutschen Städten vertreten ist, sammelte gerade erst 245 Millionen Euro ein, um sich für den Lieferkrieg zu rüsten. Jede Woche öffnen die Pedal-Primaten ein neues Warenlager in Deutschland. Mit einem Wert von einer Milliarde Euro ist es ein Einhorn, wie man in der Start-up-Welt sagt. Derzeit sucht die Firma neues Risikokapital in Höhe von einer weiteren Milliarde: für mehr Filialen in ganz Europa, mehr Produkte, Roboter-Lager und sogar eine Gorillas-Kreditkarte. Fraglich ist nur, wie sich das Ganze je rechnen soll. Viele Produkte sind bei Gorillas sogar billiger als im Supermarkt, die Liefergebühr von 1,80 Euro entfällt bei größeren Bestellungen und bei den vielen Preis-Aktionen. Der Essens-Lieferdienst Lieferando zum Beispiel schreibt bis heute rote Zahlen, was die Mutterfirma, das Dax-Unternehmen Delivery Hero, nicht davon abhält, sich ab August in Berlin mit dem Dienst „Foodpanda“ ebenfalls ins Getümmel zu stürzen.

Wohin das alles führt, ist schwer abzusehen: Haben Supermärkte bald ausgedient? Sind wir in Zukunft total geliefert? Oder ist all das eine große Blase, die bald platzt? Ökonomisch mehr als fragwürdig, muss so ein Lieferkonzept ökologisch übrigens nicht unbedingt von Nachteil sein, wie unsere Autorin Svenja Beller herausgefunden hat – im Gegenteil, sofern einige Grundbedingungen stimmen: zum Beispiel, wenn regionale Bio-Lebensmittel direkt zur Kundschaft gebracht werden. Und gerade älteren Menschen kann der Lieferservice an die Wohnungstür den Alltag erleichtern.

„Wir demokratisieren das Recht auf Faulheit“, sagte Turancan Salur, der Chef des türkischen Lieferdienstes Getir, dem Guardian – und bringt damit auf den Punkt, was wir auf dem Weg in die Dienstleistungsinanspruchnehmergesellschaft verlieren könnten: die Inspiration durch vor uns ausgebreitete, frische Lebensmittel, ein Ort, an dem Menschen sich begegnen und – gerade in Zeiten von Homeoffice – einen weiteren Bezugspunkt zum Leben da draußen, ob auf dem Wochen- oder im Supermarkt. Denn eigentlich kaufen meine Nachbarin und ich doch ganz gerne persönlich ein, sie mit ihrem Schleppkarren, ich mit meinem Rucksack. Und während in den Metropolen bald an jeder Ecke Lieferräder pendeln, sterben auf dem Land weiter die Läden – Gorillas sind wohl eher Stadttiere.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende – liefern Sie sich eine gute Zeit!

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Unser Autor Thomas Merten beobachtet Gorillas – in seiner Nachbarschaft
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