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In den vergangenen 20 Jahren haben Frauen in Afghanistan viel gekämpft, um minimale Rechte zu bekommen. Dafür haben sie hohe Opfer gebracht. Nun machen sie sich große Sorgen

Kabul (dpa) - Marina Haidari holen Kindheitserinnerungen ein. Eine davon stammt etwa aus dem Jahr 1997, als die Taliban erstmals in Afghanistan an der Macht waren. Damals beschallten sie ständig die Straßen mit furchteinflößenden Liedern aus Lautsprechern, die an ihren Trucks angebracht waren. Kaum waren die Hymnen zu hören, verzogen sich alle in Windeseile in ihre Häuser und Wohnungen. Nur einmal war Marina schon fast beim Basar. Aus dem Nichts fuhr sie ein Talib an und schlug ihr mit einer Peitsche auf die Wange. Ihr Vergehen? Sie trug keine Burka. Sie war noch keine 13 Jahre alt.

Heute ist Marina fast 37 Jahre alt. Sie müsse den Kopf schütteln, erzählt sie am Telefon, als mehrere ihrer jüngeren weiblichen Verwandten in ihrem Schlafzimmer erstmals eine Burka anprobieren. Die Taliban sind wieder in der Stadt, seit weniger als einer Woche, und die jungen Mädchen probieren dieses blaue, schwere Ungetüm von Verschleierungsstück aus diesem gerillten, plastikähnlichen Stoff. Erstmals blicken sie durch das vergitterte Sichtfeld.

Eine Schwägerin hatte die Burka, in einer bösen Vorahnung, die Islamisten könnten bald in der Stadt stehen, vor etwa drei Wochen erstanden. «Dieses Ding ist vielleicht das sichtbarste Zeichen dessen, dass sie wieder an der Macht sind», sagt Marina. «In Wirklichkeit aber ist der Tschadori unser geringstes Problem», sagt sie weiter und verwendet den in Afghanistan üblichen Namen für die Burka. «Da wird wieder viel Übleres auf uns zukommen.»

20 Jahre lang hat der Westen nach dem US-Einmarsch in Frauenrechte in Afghanistan investiert. Unzählige Gelder flossen in diese Programme, und sie erreichten nicht nur die Städte, sondern auch ländliche Gebiete. Frauen erzählten in der Vergangenheit davon, dass es ihnen in diesen Programmen wie Schuppen von den Augen gefallen sei. «Mir wurde erstmals klar, dass ich mein ganzes Leben lang wie ein Tier behandelt worden war», sagte eine Frau in der Provinz Badachschan im Norden des Landes.

Gleichzeitig setzten für die Frauen diese Programme oft auch eine Achterbahnfahrt in Gang. Sie kamen gestärkt zuhause an und stellten Forderungen. Dass sie innerhalb der Familie eine Stimme haben möchten, sich bilden möchten, eine Arbeitsstelle finden möchten oder politische Ämter möchten. Da es aber praktisch keine Programme gab, um auch Männern die Wichtigkeit von Frauenrechten mitzugeben, kannten diese sich nicht mehr aus. Oft hatten sie nur eine Antwort auf diese Forderungen aus heiterem Himmel: Gewalt.

Wenn die Frauen sich dann bei der Polizei oder Gericht beklagten, waren auch dort die gleichen Männer mit derselben Einstellung - und die Frauen wurden dort oft noch einmal zu Opfern von Gewalt. Die heute erreichten Rechte der Frauen - sei es dass sie vermehrt über ihr Leben selber entscheiden, Sport treiben oder ihr Studienfach wählen können - waren also mit größten Opfern erkämpft. Vorreiterinnen haben ihr Leben riskiert, um ein klein bisschen mehr Freiheit leben zu können. Die afghanischen Frauen wissen darum. Ihnen ist klar, was für sie nun auf dem Spiel steht.

Der neue Status quo seit Sonntag, dem Tag der erneuten Machtübernahme der Taliban, ist für Frauenrechtsaktivistinnen niederschmetternd. «Wir Frauen haben alles verloren», sagt die Parlamentarierin Raihana Asad. «Und wir sind einem Angriff ausgesetzt, der sich kaum weniger schlimm anfühlt, als der Weltuntergang.». Sie schenke den Worten der Islamisten nicht den geringsten Glauben.

Diese hatten erklärt, sich auch für Frauenrechte einsetzen zu wollen - mit dem vagen Zusatz «im Rahmen der islamischen Scharia». Ein Taliban-Vertreter hatte diese Woche sogar einer Fernsehjournalistin ein Interview zur Sicherheitslage in Kabul gegeben, für Afghanen bislang unvorstellbar.

Es gibt aber auch Anzeichen, dass die Islamisten weiter nicht viel von Frauen halten. Eine bekannte Fernsehmoderatorin wurde diese Woche trotz Verschleierung von Taliban nach Hause geschickt. Asad sagt, auch Studentinnen in der Stadt Herat im Westen seien von Taliban nach Hause geschickt worden und man habe ihnen gesagt, sie bräuchten nicht mehr zu kommen. In Herat hatten sich lokalen Medien zufolge mehr Frauen als Männer an Universitäten eingeschrieben.

Raihana befürchtet, es ist alles nur eine Frage der Zeit. Sie habe die «reale Sorge», dass Mädchen, ganz wie früher, nicht mal mehr zur Schule gehen dürften, sobald sich die Taliban erst einmal besser aufgestellt hätten.

Die Bilder von öffentlichen Auspeitschungen oder Steinigungen von Frauen, die vielen von der ersten Taliban-Herrschaft in schauderhafter Erinnerungen sind, werde es ihrer Meinung nach nicht mehr geben, sagt die Parlamentarierin Asad. Sie beobachte, wie sie bereits nach Frauenrechtsaktivistinnen suchten, auch nach ihr. «Ich glaube, sie werden Aktivistinnen und Frauen wie mich nicht öffentlich hinrichten», sagt sie schließlich. «Sondern uns einfach verschwinden lassen.»

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