Ausgebremst

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Perspektivwechsel sind ja prinzipiell eine feine Sache, vor allem, wenn sie Resultat einer bewussten Entscheidung oder einer allmählichen Entwicklung sind. Mitunter vollziehen sie sich aber abrupt, ungeplant und schmerzhaft, und das nicht nur im übertragenen Sinne.

So ist es mir kürzlich ergangen. Etwas fegt mich von der ziemlich glatten und abgetretenen Stufe einer S-Bahn Treppe und lässt mich brutal auf den fiesen Steinboden knallen. Nachdem mich mein eigener und ein herbeigeeilter junger Mann aufgesammelt haben, dämmert mir, dass es mit dem geplanten Spaziergang bei Sonnenschein im Botanischen Garten wohl eher nichts wird – das linke Bein erweist sich als unbrauchbar. Lob und Preis dem hilfsbereiten jungen Mann und anderen netten Mitmenschen, denn während ich als Häufchen Unglück auf der Treppe hocke und auf den Rettungswagen warte, fragen mehrere Leute, ob wir Hilfe brauchen.

Dann das in solchen Fällen übliche Standardprogramm: Notaufnahme, warten, Röntgen, Diagnose (Oberschenkelhalsbruch), weitere Untersuchungen, Blutabnahme, Fragebögen, warten auf freies Zimmer, endlich ein Bett, warten auf die OP, leider bis zum nächsten Morgen. Sodann, statt hinaus zum 1. Mai, hinein zum 1. Mai, nämlich in den Operationssaal.

Die gute Nachricht: OP geglückt. Die schlechte: Bein etwa acht Wochen lang nur sparsam belasten, so die ärztliche Anweisung. Das Verlassen der im dritten Stock (ohne Fahrstuhl) gelegenen balkonlosen Wohnung wird zu einer sportlichen Herausforderung. Ich arbeite dran und mache Fortschritte, wobei „Schritte“ durchaus wörtlich gemeint ist. Unterstützung bietet mein Fuhrpark, bestehend aus zwei (!) Rollstühlen, einer davon eine Privatleihgabe, und einem segensreichen Rollator, auf dem man sogar Dinge von A nach B transportieren kann.

Acht Wochen, das klingt zwar wie eine Ewigkeit, ist aber in Wirklichkeit ein überschaubarer Zeitraum. Wie aber, Achtung, Perspektivwechsel, meistert man seinen Alltag, wenn man dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen ist, der sogenannte öffentliche Raum sowie der Nah- und Fernverkehr aber immer wieder schier unüberwindliche Hindernisse bereithalten? Theoretisch hätte zwar „für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit“ erreicht werden sollen. So will es das Personenbeförderungsgesetz, aber dem ist leider nicht so.

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) belegt das in seinem Bahntest 2023/2024, in dem es nicht nur um die Bahn geht, eindrucksvoll. Es fängt schon mit dem Zugang zu Informationen und Tickets an. Weiter geht es (oder eben nicht) mit dem Weg zur nächsten Haltestelle und dem Zugang zu derselben. Zitat aus der besagten VCD-Studie: „Nicht abgesenkte Bordsteine, unbefestigte und unebene Wege, schlechter Straßenbelag, lose Gehwegplatten, steile Rampen, im Weg stehende Pfosten und Poller, fehlende Querungshilfen an breiten Straßen, zu kurze Grünphasen, keine taktilen und akustischen Hilfen an Ampeln, schlechte Beleuchtung…“   

Während es bei den Fahrzeugen, also Bussen oder Straßenbahnen, nicht so schlecht aussieht, heißt es in Bahnhöfen oft: Vorsicht an der Bahnsteigkante. Deren Höhe variiert nämlich in Deutschland zwischen weniger als 38 und sagenhaften 103 Zentimetern. Wer im Rollstuhl sitzt und die Bahn benutzen will, kann das zudem nicht spontan tun, sondern muss sich zuvor zwecks Bedienung der umständlich zu handhabenden Zustiegshilfen an den bahneigenen Mobilitätsservice wenden und dann hoffen, dass es klappt. Was da so alles schieflaufen kann, zeigt das Beispiel der Umweltaktivistin und Rollstuhlfahrerin Cécile Lecomte.

Was es braucht, damit es besser läuft: mehr Geld, mehr Personal, mehr Beteiligung von Betroffenen, klare Standards und Verantwortlichkeiten zum Beispiel. Sowie die Einsicht, dass es nicht „nur“ um ein paar Rollstuhlfahrerinnen und  -fahrer geht, sondern auch um Reisende mit schwerem Gepäck oder Fahrrädern, Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit Einkaufstrolleys, Kinder und Alte. Es betrifft also in Wirklichkeit sehr viele. Und war es nicht das hehre Ziel, ÖPNV und Bahn schon aus Klimaschutzgründen attraktiver zu machen? Dazu zählt ganz unbedingt auch die Barrierefreiheit. Am besten 100 Prozent.

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Schönes Wochenende und Vorsicht beim Treppensteigen!

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Redakteurin Kerstin Eitner schildert Einblicke in einen bewegungsreduzierten Alltag
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Transformation auf Speed

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ein Protestcamp wurde geräumt. Das dauerte ein bisschen: Menschen hatten sich hoch in den Bäumen oder in Baumhäusern verschanzt, saßen auf sogenannten Mono- oder Tripods. Es ging um Klimaschutz. Ja klar, höre ich Sie sagen: Lützerath, Braunkohle, Tagebau Garzweiler.

Diesmal nicht. Die Räumung fand ein ganzes Stück weiter südöstlich statt, im Fechenheimer Wald, der zum Frankfurter Stadtgebiet gehört, und das Thema war ein anderes: 2,7 Hektar Forst mit rund 1000 Bäumen sollen für einen 1,1 Kilometer langen Tunnel fallen. Dieser soll die Autobahnen 66 und 661 verbinden und liegt etwas abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Weniger Protestierende, weniger Prominenz, weniger Presse. Aber deshalb nicht unwichtig.

Hier haben wir nämlich ein weiteres Relikt des fossilen Zeitalters, das wir doch eigentlich hinter uns lassen wollten. Wer weiß, vielleicht passt es manchen ganz gut in den Kram, dass alle Scheinwerfer auf Lützerath gerichtet sind. Im medialen Halbschatten lassen sich gemütlich Tunnel bohren und Verkehrswege asphaltieren. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) ist sich jedenfalls mit sich selbst einig, dass es nicht nur an Schildern für Tempo 130 mangelt, sondern definitiv auch an Straßen, was sich seiner Ansicht nach dringend ändern muss.

Schaut man sich die Besetzungsliste des Autogipfels vom 10. Januar im Kanzleramt an, Tarnbezeichnung „Spitzengespräch der Strategieplattform Transformation der Automobil- und Mobilitätswirtschaft“ (O-Ton Regierungssprecher Steffen Hebestreit), dann sieht man: Mobilität ist hierzulande immer noch vor allem Automobilität. Anwesend waren bei dem Treffen mit ein, zwei Ausnahmen ausschließlich Vertreter und Vertreterinnen von Auto- und Zulieferindustrie plus Gewerkschaften. Bahn, ÖPNV und Fahrrad fanden hier nicht statt, sehr zum Missfallen der entsprechenden Verbände.

Es ging hauptsächlich darum, wie man mehr E-Autos auf die vielen schönen Straßen bringt, wie also das Ziel von 15 Millionen stromgetriebenen Pkw bis 2030 erreicht werden kann, die dann wohl zu den (bislang) 48 Millionen benzin- und dieselgetriebenen Privatfahrzeugen hinzukommen. Über den Abbau von Subventionen und Steuerbegünstigungen für Letztere wurde nicht gesprochen.

Mir als Radfahrerin und Gelegenheitsfußgängerin in der Stadt ist es ziemlich wurscht, ob mir ein strom- oder benzinbetanktes Auto Vorfahrt und Platz wegnimmt. Zwar sind neuerdings rote Streifen auf ein paar Straßen in meiner Umgebung gepinselt worden, auf denen ich jetzt ganz offiziell mit dem Rad fahren darf – sogar auf der Reeperbahn, dass ich das noch erleben darf! –, trotzdem wüsste ich gern, wie darüber hinaus die von mir und ähnlich Gesinnten ersehnte Straßenbefreiung und -befriedung aussehen könnte. Sitzen, flanieren, picknicken, plaudern, spielen, es ergäben sich ungeahnte Möglichkeiten.

Das geht nicht über Nacht, aber Instrumente wie Anwohnerparken und die generelle Verteuerung des Parkens würden helfen, denn die meiste Zeit fährt das Auto ja nicht, sondern steht herum. Oft sogar völlig kostenfrei auf einem der zahlreichen Parkplätze, die mit elf Quadratmetern etwa so groß sind wie ein Kinderzimmer und sehr viel größer als die meisten Gefängniszellen. Wie so eine Parkraumbewirtschaftung funktionieren kann, zeigt das Beispiel Tübingen. Dann wäre da noch der Ausbau des ÖPNV, bitte auch und gerade in ländlichen Gebieten, und die Sanierung der Bahn.

Über einen Mangel an klima- und energiepolitischen Großbaustellen können wir uns auch abseits der Verkehrswege nicht beklagen. Stromleitungen. Windräder. Wasserstofftechnik. Sowie, sozusagen als Unterbau, das im Oktober angekündigte und bislang schmerzlich vermisste Energieeffizienzgesetz. Und damit auch wirklich jede Kommune bei der Transformation mitmachen kann, fordern Gewerkschaften, Umweltorganisationen, Sozial- und Kommunalverbände eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes, denn bislang darf der Bund den Klimaschutz auf kommunaler Ebene nicht mitfinanzieren.

Da trifft es sich, dass Justizminister Marco Buschmann (FDP) soeben das „LNG-Tempo“ als neue „Richtgeschwindigkeit bei Planung und Genehmigung“ proklamiert hat. Fein. Nun gilt es noch eine Formel zu finden, die bei Infrastrukturprojekten den Klima- und Umweltschutz sowie die Hebung der Lebensqualität priorisiert. Nicht dass mir nachher der Straßenbau als kleinster gemeinsamer Nenner rauskommt. Sollen sich mal mathematisch Begabtere damit beschäftigen. Meinetwegen darf das Ergebnis gern im Bereich von 2 LNG liegen, mindestens.

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Redakteurin Kerstin Eitner fordert: Höchstgeschwindigkeit, aber bitte nicht für Straßen
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Kerstin Eitner
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